Ein Beitrag aus dem Seminar „Quartiersforschung“ im Lehrgebiet „Theorie der Stadt“ an der School of Architecture Bremen, WiSe 2023/2024.
Rike Jakubigk
Studierende an der Hochschule Bremen
20. April 2024
Mittlerweile ist bekannt, dass die Biodiversität auf der ganzen Welt abnimmt. Die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) versucht mit ihrer Zertifizierung deswegen unter anderem dem Rückgang der Biodiversität auf Quartiersebene entgegenzuwirken[4]. Frei nach Olaf Schnur stellt sich daher die Frage: Ist das Quartier eine Lösung für die Biodiversitätskrise?[1]

Biodiversität zertifizieren
Die DGNB ist eine Gesellschaft, die Gebäude nach Nachhaltigkeitskriterien bewertet und je nach Erfüllungsgrad in Klassen zertifiziert. Das Planungs- und Optimierungstool der DGNB gibt es für Gebäude sowie auch für ganze Quartiere. Ziel der Zertifizierung ist „die Entwicklung von nachhaltigen, zukunftsfähigen Quartieren, in denen Menschen sich wohlfühlen können[…]“[5]. Da die biologische Vielfalt eine Grundlage der menschlichen Existenz ist, ist dem Verlust dieser Vielfalt entgegenzuwirken[4]. Das Kriterium „Biodiversität“ des Zertifizierungssystems ist ein Ausschlusskriterium, d.h. eine Zertifizierung kann nur erfolgen, wenn in dieser Kategorie ein Mindeststandard erfüllt wird[4]. Verschiedene Maßnahmen steuern der Erhaltung und, im besten Falle, Steigerung der Biodiversität bei. Dadurch sollen die Ökosysteme und ihre biochemischen Informationen erhalten bleiben und zusätzlich, unter anderem, die Lebensqualität im Quartier gesteigert werden.
„Fuzzy Place“ vs. klare Grenzen
Aber was genau ist ein Quartier? Der Quartiersbegriff ist im Kontext der Stadtplanung/-forschung nicht klar eingegrenzt. Quartiere entstehen durch ein subjektives Gefühl von Zusammengehörigkeit der Bewohner*innen an einem bestimmten Ort. Dadurch wird eine städtische Umgebung unter Einfluss verschiedenster Faktoren zu einem Quartier, einem gemeinsam erlebten Raum[3]. Olaf Schnur verweist auf die soziale Ebene eines Quartiers in seinen Texten und hält fest, dass es weder ein klares Innerhalb, noch ein eindeutiges Außerhalb des Quartiers gibt, sondern, dass sich Quartiere als „fuzzy places“ konzeptionell immer zwischen diesen Polen bewegen[1].
Die DGNB definiert das Quartier jedoch anders: Je nach Leistungsphase wird der städtebauliche Entwurf oder Bebauungsplan mit seinen Grenzen herangezogen. Ausnahmen können festgelegt werden, jedoch muss das Quartiersgebiet zur Projektanmeldung vom Auftraggeber und der DGNB festgelegt werden und kann danach nicht mehr verändert werden[4].
Animal-Aided Design
Essentiell für die Beantwortung dieser Frage sind natürlich die Tiere und Pflanzen selbst. Sie haben einen ganz anderen Raumbezug in ihren natürlichen Habitaten und werden sich wenig nach den von den Einwohnern*innen oder dem Bebauungsplan festgelegten Quartieren richten.
Die Beschreibung eines „fuzzy place“ kann für die Definition von Tierhabitaten ebenfalls gut herangezogen werden: auch für sie gibt es keine scharfen Grenzen. Stattdessen gibt es über den Lebenszyklus einer Art hinweg je spezifische Anforderungen an die Umgebung: Jagdreviere, Ruhe- und Nahrungsstellen sind unter anderem Faktoren, die bestimmen, ob ein bestimmter Ort als Habitat in Frage kommen kann und wo dieses Habitat grob anfängt und endet. Je nach Art gibt es verschiedene Bedürfnisse und einen anderen Anspruch an Raum. Die Qualität der Umgebung kann dabei die Habitatsgröße einer Art verkleinern oder vergrößern[6].
Animal-Aided Design verfolgt den Ansatz, Tiere und ihre Habitate zu identifizieren und deren spezifische Bedürfnisse in die Entwurfsplanung von Quartieren mit einzubeziehen. Das Ziel ist das Etablieren von verschiedenen Tierarten und deren Lebensräumen in der Stadt[6].
Biodiversität in Bremen
Schaut man genauer auf das Land Bremen und seine Wiesen und Deiche, stellt sich die Frage: Wie steht es um die Biodiversität in Bremen und welche Rolle spielt das Quartier dabei, bzw. welche Rolle könnten Quartiere spielen?
Die Frage, wie es der Biodiversität in Bremen geht, ist laut Alena Jöst, Referentin bei der Bremer Senatorin für Umwelt, Klima und Wissenschaft im Referat Naturschutz und Landschaftspflege, schwer zu beantworten[7]. Im Interview bestätigt sie, dass Biodiversität zu vielfältig sei, um auf Quartiersebene eine genaue Antwort darauf zu geben. Im urbanen Raum sind die Tier- und Pflanzenpopulationen stark fragmentiert, sodass das lokale Vorkommen einer Art keinen Rückschluss auf die Situation der Gesamtpopulation in Bremen zulässt. Biodiversität ist die genetische Vielfalt innerhalb der spezifischen Arten, die Artenvielfalt (Gesamtheit aller Arten) und die Vielfalt der Ökosysteme (Gesamtheit aller Habitate und Lebensräume), aber auch die Wechselwirkung zwischen und innerhalb der selbigen. Das alles als Ganzes zu erfassen und zu bewerten sei sehr komplex.
Frau Jöst berichtet, dass sich in Bremen derzeit viel für den Erhalt und die Förderung der Biodiversität tut. Es gibt Schutzgebiete mit guten Erfassungsdaten und viele einzelne Akteure, die zum Schutz der Biodiversität handeln, wie zum Beispiel der BUND und der NABU. Das meiste Engagement im Stadtbereich geschieht aus Eigeninitiative. Zu nennen sind aber auch die Maßnahmen des Umweltbetriebs Bremen (UBB), der sich für mehr Artenvielfalt auf öffentlichen Grünflächen einsetzt. Darüber hinaus gibt es mehrere Gesetzgebungen, die richtungsweisend sind, aber oft nur übergeordnete Ziele formulieren und keine konkreten Maßnahmen einleiten. Als übergeordnete räumliche Planung gibt es zum Beispiel das Landschaftsprogramm der Senatorin für Umwelt, Klima und Wissenschaft, auf dessen Grundlage unter bestimmten Voraussetzungen Grünordnungs- oder Freiflächengestaltungspläne erstellt werden können, die auf Quartiersebene konkrete Freiraumplanung ermöglichen[8]. Für private Haushalte haben diese Planungen wenig Bedeutung, sodass im kleinteiligen Siedlungsraum immer noch wenig Veränderung stattfindet – nur vereinzelt gibt es „kleine“ Gesetzgebungen, wie zum Beispiel ein „Schottergartenverbot“, geregelt im Begrünungsortsgesetz von 2023[9].
Biodiversität auf Quartiersebene fördern
Eine solche Konkretisierung auf Quartiersebene wäre sehr zu wünschen. Die Fragen, die sich Frau Jöst in der Erarbeitung der Strategie stellt, verlangen geradezu nach der Quartiersebene als einer Ebene der Zusammengehörigkeit und Teilhabe. Das Quartier bietet ideale Ansatzpunkte für Bürger*innenbeteiligung und für eine Identifikation durch Teilhabe und somit auch für mehr Akzeptanz.
Frau Jöst betont dementsprechend das Potenzial und die Möglichkeiten, die die Quartiersebene für die Förderung und den Schutz der Biodiversität bieten könnte: Die Ebene sei gut für kleine biodiversitätsfördernde Maßnahmen, die auf den Ort zugeschnitten sind. Sie erlaubten eine detailliertere Planung und böten Raum für die Bewohner*innen zum Mitentscheiden und Mitgestalten. Auch nur im Privaten wirksame Maßnahmen könnten große Wirkung entfalten, wenn durch das Miteinander-Reden und Nachfragen ein Netzwerk an Biotopen entstehen würde und dadurch vor allem in Nachbarschaften viele Bewohner*innen mitmachten. Das zusammen mit der Biodiversitätsstrategie in Entwicklung befindliche Insektenschutzprogramm bietet ihrer Meinung nach gute Anknüpfungspunkte. Die öffentlichen Grünanlagen und ihre naturnahe Pflege und Gestaltung sind durch das Flächenpotenzial der größte Hebel, um Insekten als Indikator für eine vielfältige Fauna und Flora zu fördern. Naturnah gestaltete Freiräume und Gebäude(-teile), die kleine Biotope darstellen, das Mikroklima verbessern und eine hohe Aufenthaltsqualität bieten, können als Trittsteine die Biotopvernetzung stärken.
Das Quartier als Lösung…
Es ist unschwer zu sagen, dass das Quartier alleine die Biodiversitätskrise nicht lösen kann. Dennoch könnte die vielfältige Zusammenarbeit im Quartier – also die Kooperation in einem lokalen, sozialräumlich integrierten Netzwerk – dem Rückgang von Biodiversität entgegensteuern. Ein Quartier ist klein genug, um detailliert auf sein spezifisches Ökosystem einzugehen, und groß genug, um einen flächenwirkenden Einfluss zu haben. Dafür müsste Biodiversität jedoch einen höheren Stellenwert bekommen, sei es im Hochbau, in der Stadtplanung oder in der Grünplanung: Wenn Biodiversität von Anfang an als Grundbaustein eines Vorhabens gelten würde, könnte viel besser darauf eingegangen werden und es stünden mehr finanzielle Mittel zur Verfügung. Deshalb sollte Biodiversität jetzt in alle Entscheidungen und Prozesse integriert werden.
Für Frau Jöst ist dies der spannendste Aspekt ihrer Arbeit: „Wie können wir so leben, unsere Stadt so gestalten, dass die biologische Vielfalt so stabil ,funktioniert‘, dass sie dynamisch auf sämtliche Widrigkeiten reagieren kann? Biodiversität ist Lebensqualität“.
Literatur
[1] Schnur, Olaf. 2021. Quartier als Schlüsselbegriff. In: BBSR (Hrsg.): Stadt gemeinsam gestalten. Neue Modelle der Koproduktion im Quartier, Bonn, S. 13–17. ISBN 978-3-87994-537-5. PDF
[3] Willinger, Stephan. 2012. Lebensraum Stadtquartier – Leben im Hier und Jetzt. In: BBSR (Hrsg.): Informationen zur Raumentwicklung, Heft 3/4 2012, S. 1–8. PDF
[4] Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen – DGNB. 2020. DGNB System – Kriterienkatalog Quartiere. PDF
[5] Kreißig, Johannes. 2023. Das DGNB System für Quartiere. Nachhaltige Quartiere planen und zertifizieren. DGNB GmbH. Website
[6] Hauck, Thomas E.; Weisser, Wolfgang W. 2015. AAD – Animal-Aided Design. Broschüre, FREISING. PDF
[7] Jöst, Alena. Interview 30.01.2024. Referentin Naturschutz und Landschaftspflege, Senatorin für Umwelt, Klima und Wissenschaft Bremen.
[8] Senatsverwaltung Bremen. Landschaftsprogramm Bremen, Teil Stadtgemeinde Bremen (Beschluss 22.04.2015). PDF
[9] Freie Hansestadt Bremen. Begrünungsortsgesetz 2023. PDF